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Katrin Reichelt

Liebe Luise,


heute Nacht, wie in jeder Nacht, seit ich von Deinem Tod erfuhr, habe ich an Dich gedacht. An Dich und Ece in Illerkirchberg und Ann-Marie und Danny in Brokstedt und das Baby im Bauch einer Mutter bei den Zeugen Jehovas in Hamburg.

An all die Kinder, die wie Du, wie Ihr alle, ihr Leben auf eine unvorstellbar sinnlose Weise verloren haben… innerhalb nur weniger Wochen.


Zwei Flüchtlinge, die nicht hätten hier sein dürfen, und zwei Freundinnen, die mit Dir in eine Klasse gingen und ein Mann, der sich für einen von Gott gesandten hielt… es gibt kein Täter*Innen-Muster, es gibt nur Schmerz.

Ich kann mir nicht ansatzweise vorstellen, wie verzweifelt Eure Eltern sein müssen, und dass es so etwas wie Gerechtigkeit für sie nie geben wird.

Es ist für mich nicht greifbar, was Deine Eltern gerade durchmachen, wenn sie hören, dass Deine Freundinnen mit 12 und 13 noch nicht schuldfähig sind. Obwohl die Mädchen, die vermutlich bei Euch ein- und ausgegangen sind, Dich vorsätzlich in einen Wald lockten, Dich mit über 30 Stichen töteten und dann auch noch Deine Eltern anriefen, um Besorgnis vorzutäuschen. Meine Fantasie reicht nicht aus, um mir vorzustellen, wie junge Mädchen nach einer solchen Tat jemals resozialisierbar sein können, wenn sie einfach so damit davonkommen. Es ist nicht meine Lebenserfahrung, dass, wenn Menschen mit etwas wirklich Schlimmem davonkommen, für sie eine große Lehre darin liegt und sie es ganz gewiss nicht wieder tun. Es ist für mich wie eine Tür in einen anderen Raum, in dem das Undenkbare auf einmal zum Normalen wird. Aber vielleicht empfindest Du ganz anders darüber.


Meine Zweifel haben eine Geschichte


Als ich Ende 20 war und gerade mein erstes Kind erwartete, lernte ich im Rahmen einer journalistischen Recherche eine Familie kennen, deren Tochter spurlos verschwunden war: Anja Prieß, ein wunderschönes junges Mädchen wie Du. Sie wurde schließlich Tage später auf dem Hinterhof schräg gegenüber gefunden, bedeckt von Schnee, hinterhältig getötet von zwei minderjährigen Nachbarsjungen, Brüder.

Das erste, was diese taten, als sie aus dem Jugendstrafvollzug entlassen wurden (ich glaube, nach etwa 2 Jahren): Sie riefen Anjas Eltern an und sagten "Jetzt holen wir uns Eure jüngere Tochter."


Ich stelle mir vor, dass Ihr Kinder, die ein solch grausames Schicksal erlitten haben, Euch im Himmel trefft. Ihr alle wisst, wovon Ihr redet. Ihr seid zusammen und nicht allein, geballte Energie. Es scheint, als habe Gott Euch einfach verlassen. Und um diesen Gedanken zu ertragen, kann ich nur hoffen, dass es etwas gibt, das stärker ist. Etwas, dass Gott zu Boden wirft und ihn anschreit und sagt: "Spinnst Du eigentlich???"

Und wer, wenn nicht Ihr Kinder, sollte das sein?





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